Glauben an Karlsson

Es wird nass auf der Bühne von Haus Eins: Gespräch mit dem Regen von Stijn Devillé zeigt, wie Trauer und Verlust in Zeiten von Web 2.0 gehen kann. Wieso man ruhig mal an Karlsson vom Dach glauben darf. Und wieso Sterben nicht gleich der Tod der Hoffnung sein musss.

Null. Eine Zahl, eine Linie rund um Leere. Eine Leere wie jene, die der Unfalltod ihrer 14-jährigen Tochter Hanna in Adam (Tom Van Bauwel) und Nikki (Sara Vertongen) zurücklässt. Das Ehepaar versucht einen Neustart in Singapur,wo sie als CEO einer Nanotechnologie-Firma arbeitet und er als schreibblockierter Autor durch den Monsun streift – und sich beinahe selbst verlieren, denn für Eltern, deren Kind gestorben ist, gibt es kein Wort. Schweigen ist aber auch nicht die richtige Medizin, wie das Ehepaar langsam erkennt. Türmt es sich anfangs bei den morgendlichen Abschieden, wenn Nikki zur Arbeit geht, zwischen ihnen wie eine Mauer, arbeiten sie Schritt für Schritt daran, sie einzureißen, sich mitzuteilen und zuzuhören. Sich trotz Selbstvorwürfen und Streits nicht unterkriegen zu lassen. 

Leere herrscht auch in der Wohnung: Tochter Hanna im würfelförmigen braunen Holzkästchen ist neben der plastikverpackten Matratze das einzige Möbel. Eine fünfteilige Glasfassade trennt den Wohnraum von den Wolkenbrüchen, die im Monsun an der Tagesordnung und für das Stück Quintessenz sind: Aus den therapeutischen Monologen Adams werden zunehmend Dialoge, denn der Regen antwortet. Nicht nur mit  Hannas Stimme; der extra entwickelte „rain printer“ zeichnet Wörter in die Tropfenfront. So wie Adam mit weicher und doch hoffnungsstarker Stimme Bilder in die Köpfe des Publikums malt, Visionen von Superbäumen mit Solarblättern aufblühen lässt, während er auf den Spuren seiner physikbegeisterten Tochter wandelt und herausfindet, dass Sicherheiten in der Quantentheorie durch Wahrscheinlichkeiten ersetzt werden. Der gerade richtig dicke Mann in seinen besten Jahren könnte nicht besser verkörpert werden als von Van Bauwel. Ebenso Vertongen: Sie braucht beim Applaus sichtlich Zeit, um sich wieder zu lösen von der sterilen, aber verletzlichen Businessfrau, die ihre Handcreme so akribisch aufträgt wie Desinfektionsmittel und nur mit kontrollierbaren Situationen umgehen kann. Die verdrängen will und doch jeden Tag die Nachrichten checkt, die immer noch regelmäßig an Hannas Facebook-Profil geschickt werden. Verstärkt wird die Intimität noch durch die zutiefst authentische Alltagssprache mit all ihrem Stocken und Fadenverlieren. Und die Livemusik: Gerrit Valckenaers und Geert Waegeman fassen die Stimmung u.a. mit Klangschalen, Geige, Bass-Sax und Synthesizer so treffend in Töne, dass nicht nur einmal Gänsehaut aufkommt. 

Das Stück ist keine leichte Kost. Es führt das Publikum durch Abgründe menschlicher Trauer,  schonungsloser,  selbstzerfleischender Offenheit sowie Höhenflüge der Erinnerung und gegenseitiger Stärkung. Trotz des schmerzvollen Themas schafft Devillé eine Atmosphäre von Zuversicht, einen Silberstreif, der auch ohne Katechismusfunktioniert. Dafür mit ein bisschen Glauben an das Unwahrscheinliche. Zum Beispiel Karlsson vom Dach. 

Lena Rucker

Danke, dass ihr alle da seid!

„Der Sprecher und die Souffleuse“ von Miroslava Svolikova, uraufgeführt im Theater am Lend, ist eines von vielen Stücken, welches gestern den Auftakt zum diesjährigen Dramatikerinnenfestival in Graz gab. Eine Komödie, die den Scheinwerfer des Theaters auf die unbekannten Figuren richtet.

Von Cornelia Scheucher

Die Vorstellung beginnt bald. Wir, also das Publikum, wären jetzt da. Doch was ist mit den Schauspielern los? Die sind nicht da. Stattdessen steht plötzlich die Souffleuse auf der Bühne, denn sie, sie ist immer da. Und sie erzählt von einem Leben im Glaskasten, von Notizen am Rande und von Kaugummi. Und sie redet, und redet, und redet.

Bühne frei für die Mitarbeiter – auf den Brettern, die die Welt bedeuten, die hier ein schwarzer Boden, umrahmt von Vorhängen ist. Es geben sich unter anderem noch der Sprecher, der Bote und ein verwirrter König Lear die Klinke in die Hand. Letzterer taucht alle paar Minuten auf und schreit oberkörperfrei mit Blumenkrone auf dem langen weißen Haar nach seinen Töchtern. Wer liebt König Lear am meisten? Der Sprecher versucht ständig das Publikum hinzuhalten, es möge doch bald losgehen, während der Bote immer wieder über die Bühne schleicht und mit dem Regisseur am Telefon abwechselnd streitet und Liebeszeilen austauscht. Als auch noch ständig das Licht ausfällt, werden wir mit einem weiteren Mitarbeiter des Theaters bekannt gemacht – dem Haustechniker.

„Der Sprecher und die Souffleuse“ der preisgekrönten Dramatikerin Miroslava Svolikova besticht bei seiner Uraufführung unter der Regie von Pedro Martins Beja durch ein unaufgeregtes Bühnenbild, welches jedoch durch Schattenspiele und Lautsprecherdurchsagen durchaus großartige Momente bekommt, und einer fabelhaften schauspielerischen Leistung. Die Personen hinter der Bühne bekommen erstmals ihren großen Auftritt und dürfen aus dem Schatten des Vorhangs treten. Sie sind jetzt an der Reihe und anscheinend haben einige von ihnen schon länger darauf gewartet – wie der Techniker, der sich in Reden über den Strom ergötzt.

Ein durch und durch lustiges Stück, wobei zwischendurch Komik und Verzweiflung Hand an Hand gehen, wie am Beispiel des alten Königs zu sehen ist, der seiner Rolle einfach nicht entfliehen kann. Am Ende überrascht das Stück mit einer Pointe, und der Applaus gilt plötzlich nicht mehr den Schauspielern- pardon Mitarbeitern- sondern auch dem Publikum.

Ein sehenswerter Abend voller ‚Aha- Momente‘ und Fragezeichen.

Im Parlament ist alles Käse

„Du wirst ein Star werden“, verspricht die egozentrische Journalistin dem interviewten Flüchtling während sie sich selbst immer wieder in Szene setzt. Angelangt im Jahrhundert, in dem BloggerInnen als Sprachrohr der Gesellschaft funktionieren, regiert die Mediengeilheit über die Menschenwürde. Die Art und Weise wie im Social Media-Zeitalter Geld verdient wird, ist klar: Überhäufe die Masse mit Skandalen, Hashtags und Unnötigem. #BrandLondon #Europa #Käse

Schon bevor das Haus Zwei im Grazer Schauspielhaus betreten wird, sind in „Rest of Europe“ Lüftungs- und Herzklopfgeräusche zu hören. Am Boden liegen blaue Industrieschläuche, unter welchen die drei SchauspielerInnen (Matthias Lodd, Mercy Dorcas Otieno, Tamara Semzov) versteckt sind. Das von Prisca Baumann erschaffene industrielle Umfeld, weist auf den unendlichen Prozess der Europäischen Union sowie auf deren maschinelle Art hin. Durch spielerische Verwendung werden die Schläuche einmal zu Handschellen, einmal zum Schleier einer Wahrsagerin und schlussendlich zum Hintergrund der europäischen Flagge.

Zu Beginn steht das Europa-Parlament mit Mehrsprachigkeit und Meinungsverschiedenheit im Fokus. Verdeutlicht wird der Gedanke der Zusammengehörigkeit der EU mittels drei, am Rücken zusammengenähter Sakkos, in denen die Darstellenden stecken und wie die Medien um die alleinige Aufmerksamkeit kämpfen. Zwischendurch erzählt und rappt Traian seine Erfahrungen als Kellner im Parlament. Es graust ihm nicht nur vor der standardisierten Dienstkleidung, welche ihn entmenschlicht, sondern auch vor dem verschwenderischen Lebensmittelverbrauch. Egal ob im Restaurant oder in den Besprechungsräumen – im Parlament ist alles Käse.

In „Rest of Europe“ richtet die Autorin Nicoleta Esinencu den Scheinwerfer auf verschiedene Problemsituationen in unterschiedlichen Ländern, welche eine Vielfalt an möglicher Besprechungsthemen aufzeigt. Diese Reflexionen der europäischen Situation werden von den SchauspielerInnen mit vollem Körpereinsatz erzählt und unter der Regie von Nina Gühlstorff spannend inszeniert, obwohl dramaturgische Kürzungen möglich wären. Wie glanzvoll zeigt sich zB. die britische Regierung, als sie den überlebenden Opfern vom Brand im Grenfell Tower vor einem Jahr, Luxuswohnungen zur Verfügung stellt. Allerdings mit der Bitte die Hintertür zu verwenden, da sie nicht dieselben Rechte wie die zahlenden Mieter haben. Kein Wunder, dass die Sterne der Europaflagge am Schluss wackeln.

Von Felicitas Pilz

Die Sterne der Europaflagge wackeln

Die „Europäische Familie“ plädiert gerne für die Wichtigkeit des menschlichen Lebens und rühmt sich mit einem ausgeglichenen Zusammenhalt innerhalb des Staatenbündnisses. In „Requiem für Europa“ versucht die moldawische Autorin Nicoleta Esinencu durch nahegehende Erzählungen diesen Selbstruhm zu widerlegen. Das Schauspielhaus öffnet seine Türen für eine Kooperation zwischen Chişinău und Graz, die unter die Haut geht.

„Idiotule“, „You fucking idiot“. Zweisprachig wird das impulsive Stück mittels Beschimpfungen eröffnet. Um die Authentizität zu wahren, schildern die drei Schauspieler (Doriana Talmazan, Kira Semionov, Artiom Zavadovsky) ihre heimischen Arbeitserfahrungen in ihrer Muttersprache, Rumänisch. Englische Untertitel begleiten das Gesagte.

Es wird von menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und rücksichtslosem Betrug durch die Arbeitgeber in Moldawien erzählt. Sprachliche Bilder veranschaulichen die Umstände und lassen den Zuschauer im Schock zurück. Und mit schlechtem Gewissen, denn die tagebuchartigen Erzählungen strapazieren das eigene Empathie-Zentrum. Immerhin trägt die Mehrheit zu einer derartigen Ausbeutung ärmerer Länder bei. Mächtige Großkonzerne dominieren den billigen Arbeitsmarkt, der Profit-Rausch lässt keinen Platz für Menschlichkeit. Und dennoch will die Europäische Union ihr Bild von gegenseitiger Unterstützung und Gerechtigkeit wahren. Auf die Forderung nach angemessenen Arbeitszeiten und verlässlicher Bezahlung reagiert man seitens des Parlaments lediglich mit dem Hashtag #strongertogether.

Die Licht – und Tonstimmung wechselt mit dem Emotionen der Schauspieler und betont somit noch intensiver die Dringlichkeit der Situation. Schrill, blinkend, hell – um das Unangenehme zu betonen. Schleppend, blau, schwach – wie die ausgelaugten Protagonisten. Doch die Opferrolle einzunehmen ist nicht ihr Ziel. Sie wirken energisch, entschlossen, erregt. Deutlich wird diese erschöpfte Erregtheit, wenn sie beginnen im Gleichtakt auf ihren Nähmaschinen zu rattern. Drei Nähmaschinen und Lichtinstallationen bilden die karg-wirkende Kulisse, die trotz weniger Elemente ihren Zweck erfüllt.

Der unangenehme Druck, der von den Worten der Protagonisten begründet wird, lässt keinen Zuschauer in seiner Komfortzone verweilen. Die Mahnungen appellieren an unser Bewusstsein und sollen zu einer Sensibilisierung unserer Wahrnehmung führen. Ein bislang verborgener Europa-Komplex, der durch eine knapp zweistündige Schimpftirade durchaus begründet wird, rückt mit „Requiem für Europa“ ins Rampenlicht. Mit „Mulțumesc șefule“/“Thank you, boss“, verabschiedet sich die moldawische Gruppe „teatru-spălătorie“ von der Bühne und hinterlässt ein schuldbewusstes, betroffenes Publikum.

Von Johanna Höfferer

„Hinterfotzig und doch charmant“

Das DramatikerInnen Festival 2018 gipfelt in Stefanie Sargnagels Gastspiel: „JA, EH! BEISL, BIER und BACHMANNPREIS“. Zwischen Persiflage und erschreckend wahrheitsgetreuer, leider nicht allzu realitätsferner Inszenierung.

Drei Schauspielerinnen zaubern sich und Stefanie Sargnagels Gedankenwelt aus einem hölzernen und rustikalen Baukastensystem heraus auf die Bühne. Erschöpft und Müde wird zum grandiosen Gemurmel Voodoo Jürgens über die Planung des Tages debattiert: Spaziergang durch die Stadt oder Gammeln vor dem Fernseher, einen neuen Pullover kaufen oder sich doch lieber gleich ins Beisl schleppen? Auf der „Jagd nach dem ultimativen Kick“ entscheidet man sich fürs Eisschuhlaufen und schiebt sich, in vorübergehender Selbstzufriedenheit schwelgend, in die nächste U-Bahn.

Es folgen misanthropische Gedanken, ein kurzer Wonnemoment auf dem Eis, ein Treffen mit der an Liebeskummer erkrankten Freundin im Beisl und die Erkenntnis, dass die „romantische Liebe“ nichts für einen selbst wäre. Die Bar wird gewechselt und neue Gedanken kommen auf: „Wieso kann ich mich nicht einfach hervorragend fühlen?“ Mit dem „Beislhöhepunkt“ gibt auch der Körper k.o. und der zu erwartende Kater folgt am Morgen… Alles halb so wild, wären da nicht noch diese unsäglichen Auftragstexte!

Die Dreiteilung der Gedanken jener Kunstfigur, die von Sargnagel im Nachgespräch als „karikierte Koboldfrau“ beschrieben wird, in die die drei jungen Schauspielerinnen Miriam Fussenegger, Lena Kalisch und Saskia Klar schlüpfen, ist ein gelungener Kunstgriff der Regisseurin (Christina Tscharyiski ). Einwandfrei funktioniert auch die Interaktion der Schauspielerinnen mit dem Sänger und Hallodri Voodoo Jürgens und dessen Band. Sargnagel gelingt es Subkultur, Jargon und Ästhetik unter einen Hut zu bekommen – der „Poesievogel“ landet zwar schon zu Beginn des Stückes auf dem Boden der Realität, Sargnagels Dichtkunst trägt aber keinen Schaden davon!

Das Stück mag gefallen oder irritieren – Gewiss kann aber Gefallen an jenen „liebevollen Bosheiten“ und dem Beislflair gewonnen werden.

Von Loredana Wohlfahrt

Vorhang auf

Im Rahmen einer Rauminstallation wird die Rolle der Frau im Theater in den Fokus gerückt. Sexuelle Anspielungen, Machtmissbrauch und psychischer Druck- Betroffene und Insider berichten.

„Sau.Rau.“- der orange gesprayte Schriftzug am Asphalt bedeutet all jenen, die den Ort nicht ohnehin schon von uniT kennen, am Ziel angelangt zu sein. In den Fensterbänken stehen Boxen. Aus ihnen ertönen Interviews von Menschen aus dem Theaterbusiness. Ein pinker Pfeil weist auf den Eingang zu „Forced Theatre. Step too“ hin, einer Installation, die im selben Gebäude gezeigt wird wie Sau.Rau, jedoch von uniT-externen Künstlern (Ute Rauwald: Konzept und Interviews, Harald Günter Krain: Sound, Andrea Fischer: Rauminstallation und Dagmar Rauwald: Video). Neben der Türe hängen Kopfhörer an der Wand, durch die die Besuchenden weitere Interview-Ausschnitte hören können. Pinke Klebestreifen, Plastikplanen, ein kaputter Drucker- die Besuchenden bekommen das Gefühl, eine Baustelle zu betreten. Ein Sinnbild für den hohen Renovierungsbedarf im Theaterbusiness?

Die Installation, eine Weiterentwicklung der in Hamburg entstandenen Rauminstallation, dreht sich nicht nur um das Thema der MeToo-Debatte. Auf einen Drucker ist mit pinkem Leuchtstift ein Auszug eines Interviews verschriftlicht worden. Es geht um eine erkrankte Schauspielerin, die trotz Medikamenten nicht auftrittsfähig war und sich krank meldete. Dafür wurde ihr von den Kollegen viel Unverständnis und Verachtung entgegengebracht. Neben dem Drucker klebt ein Zettel mit der Aufschrift „Arbeitssoldatin“. Auf dem Drucker wird der enorme Druck thematisiert, der auf die Darstellenden ausgeübt wird. Ein Druck, der nicht nur sexueller, sondern insgesamt körperlicher und psychischer Natur ist.

Auf einem Bildschirm im Raum wird eine Szene gezeigt, in der eine Vergewaltigung abstrahiert nachgespielt wird. Währenddessen erzählt eine Frauenstimme über die Kopfhörer von einer Schauspiel-Kollegin, die im Stück, wegen der inhaltlichen Vorgabe, geschlagen wurde. Davon trug sie aber tatsächlich blaue Flecken. Eine andere Frau erzählt davon, wie eine junge Schauspielerin bei einer finalen Probe vor allen Beteiligten zusammengeschrien wurde. Sie selbst schalte bei solchen Cholerikern einfach auf Durchzug.

Eine rosé-farbene Chiffonbluse hängt an einem Haken. Daneben ein Zettel mit den Worten „das ist eine Welt“. Der Raum wirkt. Splitter von Geschichten verletzter Menschen. Viele Fragmente fügen sich zu einem Bild zusammen. Ein Bild, das sichtbar wird, wenn sich der Vorhang durch die vielen Stimmen schon vor einer Vorstellung öffnet.

Von Katja Heine

Streifzug durch Schmalz

Ferdinand Schmalz steht zwischen den literarischen Fronten. Er balanciert geschickt zwischen seiner großen Liebe, dem Drama, und der sehnsüchtig erwarteten Prosa. Dass er in beiden Formen brilliert, bewies er bei „Die Leibstücke des Ferdinand Schmalz“ am Freitag im Literaturhaus Graz.

Auf der Rückseite des Drama-Sammelbandes „leibstücke“ von Ferdinand Schmalz steht geschrieben: „theater oder wie ich es nenne: sauna fürs gehirn“. Das Schreiben für die Bühne war es, das Schmalz seit dem Gewinn des Retzhofer Dramapreises 2013 mit „am beispiel der butter“ immer bekannter gemacht hat. Bis er 2017 schließlich mit seinem Prosatext „mein lieblingstier heißt winter“ den Ingeborg-Bachmann-Preis einheimsen konnte. Wer das letzten Sommer verpasst hat, hörte die Geschichte um den Eismann, der mit einer schaurig-kuriosen Aufgabe konfrontiert wird, nun erster Hand aus dem Mund des Autors.

Die sprachliche Genauigkeit, der subtile, aber unüberhörbare Humor in jedem Wort, die exakt zerwürfelten Sätze – ob Prosa oder Drama, Schmalz bleibt sich treu. Trotzdem war der Genre-Wechsel Thema in der Diskussion mit Literaturkritikerin Sandra Kegel: Es habe „Gräben, die man überwinden muss“ gegeben, so Schmalz. Aber: „Meine Liebe zum Theater kann ich nicht verleugnen“. Autor Peter Waterhouse, der das Nachwort zu „leibstücke“ beigesteuert hat, nahm in der Diskussion mit Kegel und Schmalz die nicht sehr bühnenwirksame Rolle des Fischer-Verlag-Werbemannes ein. Sein Argument: In Schmalz‘ Dramen stecken so viele Details, die man auf der Bühne übersehen aber bei der Lektüre merken würde, folglich solle man die „leibstücke“ lieber lesen. Gut gemeint, leider nach hinten losgegangen – was wäre das für ein Drama, das am Papier besser funktioniert als auf der Bühne?

Wie gut die „leibstücke“ auf der Bühne funktionieren, das zeigten gleich zu Beginn des Abends Nico Link in der Rolle des bademeister hannes aus „der thermale widerstand“ sowie Pascal Goffin und Raphael Muff, die sich den „fernfahrerprolog“ aus „dosenfleisch“ aufteilten. Den Schluss machten Ninja Reichert, die erst Tage zuvor das Ernst-Binder-Stipendium bei der Festivaleröffnung verliehen bekam, und Roman Blumenschein. Sie schlüpften in die Rollen von jenny und hans aus „am beispiel der butter“.

Von Hannah Michaeler

Gemeinsam fremd

Die gemischte Gesellschaft wird im gemeinsamen Raum zur temporären Gemeinschaft, wenn unbekannte Individuen sich verbünden und Teil (oder Mitläufer) des Spieles (oder Lebens) werden. Im Rahmen des DramatikerInnen-Festivals verwandelte sich bei „Unter Euch“ der graue Beton am belebten Lendplatz in eine sonderliche Bühne, auf der die Glitch AG zum gemeinsamen Spielen mit Raum, Klang und Miteinander einlud.

Das Publikum – verstreut am Lendplatz – war verbunden durch Funkkopfhörer, aber dennoch abgeschirmt von der außenstehenden Umgebung. Ein skurriles Hörerlebnis um das Thema „Raum“ (speziell abgestimmt auf Graz) erwartete die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ohne Vorahnung was folgt:  Ein rotes Quadrat bildete den Rahmen des interaktiven Teils des Spiels, in dem die passiven Zuschauer und Zuschauerinnen zum aktiven Teil wurden und alle zu einer heterogenen Gruppe wurden – eine Miniaturgesellschaft auf kleinstem Raum. Alle Altersklassen, jedes Geschlecht und verschiedene Meinungen wurden zu einer Masse, in der sich jeder und jede wahrnahm, aber nicht interagierte. Man ging seinen Weg und teilte seine Einstellungen sowie Erfahrungen durch simples Seitenwechseln im Quadrat mit. Es blieb verborgen, wer Mitläufer war und wer es wirklich wagte, seine Meinung zu offenbaren.

Eine Stimme durch Präsenz. Eine Stimme ohne Worte. Teil der Gruppe mit einer Stimme im Ohr. Leben miteinander, nebeneinander aber ohne Worte.

Das Stück „Unter Euch“ wurde von der Glitch AG (Raha Emami Khansari, Eva-Maria Glitsch, Anna Hubner, Christine Kristmann, Anne Pretzsch und Lionel Tomm) in Deutschland ausgearbeitet und ist ein skurriles Stück, das nicht nur zum Anschauen dient, sondern zum Mitmachen und späteren Nachdenken anregt und vor allem unterhaltsam ist.

Vom Christine Glauninger

Die Absurdität der heutigen Zeit

„Mobile Arbeitsateliers“ erlaubten dem Publikum am 08.06. im HAUS DREI einen Einblick in die im Entstehen befindlichen Texte zweier junger Autorinnen (Enis Maci und Gerhild Steinbruch). Deren Unabgeschlossenheit wurde zwar betont, wäre dem Publikum ansonsten jedoch nicht aufgefallen. – Der langanhaltende Applaus am Ende beider Präsentationen ist Beleg dafür.

Das Begeistern der Zuschauer bleibt neben der grundlegenden Gesellschaftskritik allerdings die einzige Gemeinsamkeit der beiden Darbietungen: Denn während Gerhild Steinbruch, die seit Jänner 2018 mit Bernhard Fleischmann an einem Hörspiel arbeitet, mit ihrem schwarzen Bowler hinter einem Mac vom einzigen Scheinwerfer beleuchtet wird, lässt Enis Maci, in Zusammenarbeit mit Franz-Xaver Mayr, drei Figuren in einem sichtbar engen Auto Platz nehmen. Während dieses Auto-Setting bereits das Publikum zum Lachen bringt, binden schon die ersten Worte Steinbruchs die Faszination der Zuschauer an sich. Mit raschem Sprechtempo fängt sie augenblicklich die menschlichen Ängste und entmenschlichenden Denkmechanismen des heutigen Zeitgeistes ein. Langsam lesen dagegen Macis Figuren Theaterstücke mit gesellschaftskritischem Impetus und versuchen sich mit „Autofahrspielen“ die Zeit zu vertreiben. Futuristische Klänge verdeutlichen Steinbruchs Kritik an der heute in der Gesellschaft dominanten absurden Suche nach optimierter Effizienz und dem Zwang nach lächelnder Fassade. Das Klarinettenspiel und die Singeinlagen der Schauspieler in Macis Werk dagegen führen die Situation ad absurdum und stehen im Kontrast zu den gelesenen Erzählungen wie jener über die Amokfahrerin Olga H.

Obwohl konträr, beeindrucken beide Präsentationen mit ihrer jeweils eigenen machtvollen Eindringlichkeit. Sie machen tatsächlich, wie das Programmheft verspricht, Lust auf mehr. Nämlich mehr Texte und Inszenierungen dieser beiden enormen Talente.

Die Fertigstellung der Texte ist für Ende dieses Jahres geplant.

Von Sarah Strasser

Ich bau dir einen Berg

Wer denkt, dass Gesellschaftskritik nur von selbstverherrlichenden Idealisten im Elfenbeinturm geübt wird, sollte sich dieses Stück ansehen: Das Künstlerkollektiv (bestehend aus „Freundliche Mitte“: Gerhild Steinbruch, Philine Rinnert, Sebastian Straub und zusätzlich: Pia Derler, Mechthild Weber, Bernhard Fleischmann u.a.) übt in der performativen Inszenierung „Bergeins“ Kritik an der gegenwärtigen Regierung, warnt vor Rechtsextremismus und vergisst dabei nicht, die eigene Rolle zu hinterfragen. Der passende Aufführungsort dazu: Dom im Berg.

„Wir werden uns nicht mehr müde fühlen, wenn wir den Berg gebaut haben, als Monument einer Geschichte, die gewesen ist. Der Berg ist unser Monument, er ist unser Spektakel.“ Eine männliche Stimme ertönt aus den Lautsprechern. Ihre Worte erinnern an Big Brother. Es gibt kein Gesicht dazu. Eingestimmt auf die anstehende Gesellschaftskritik wurde das Publikum schon im Tunnel durch den Schlossberg. Aus den Seitengängen schallten „Reden die Österreich bewegten“, von Karl Renner bis Schuschnigg. Nun steht das Publikum an einem Geländer und blickt auf den Spielplatz hinunter: Eine große Skulptur eines Berges mit Gipfelkreuz steht hellbeleuchtet im Raum. Zwei große Plakate, eines mit dem Cover einer Schallplatte „Österreich mein Heimatland“, das andere mit dem leicht veränderten Titel „Österreich kein Heimatland“. Aufgestapelte Sandsäcke formen ein U, dagegen ist ein Gewehr gelehnt. Zielscheiben sind zwei Kästen mit darüber gebauter Bergidylle. Vor dieser Idylle sind zum einen abstrakte Bilder von verschleierten Mädchen und einem herausstechenden Clown zu sehen. Zum anderen stehen Kaiserfiguren mit den Gesichtern bekannter Politiker hinter Kornblumen. Eine starke Kritik am Vermummungsverbot.

Ein Knall. Die Zuseher gehen weg vom Geländer, die Treppe hinunter und hinein ins Geschehen. Die ganze Szenerie wirkt sehr futuristisch: Grell-flackerndes Licht, laute Musik, vier Künstler mit schwarzem Gewand und silbernen Schuhen verteilen Sekt. Dies ist, mit Ausnahme von einem kurzen Auftritt von Gerhild Steinbruch, der einzige schauspielerische Part. Ansonsten ist das Publikum selbst Teil des Stücks und kann sich frei auf der Bühne bewegen. Mit den einzelnen Stationen wirkt es fast wie eine Ausstellung. Die Sinne der Zuseher werden auditiv- mit viel Sprachgewandtheit und provokanten Statements- und auch visuell- mit den Stationen und vielen zusätzlichen Bildern- überflutet. In diesem Stück stecken so viele Anregungen, dass man es am liebsten ein zweites Mal gehen möchte, um mehr mitnehmen zu können. Die gesprochenen Texte regen mit viel Wortwitz und guten Gedanken zum Nachdenken an. Auch Interviews mit jungen Menschen, die im Rahmen eines Workshops beim Bühnenaufbau gemacht wurden, flossen in die Produktion ein. Gegen Schluss trägt Gerhild Steinbruch ein Plädoyer vor: gegen einlullende, politische PR-Rhetorik und rechtsextremes Gedankengut, aber auch gegen den eigenen, lähmenden Hass.

Teilweise werden die Künstler gefährlich überkritisch und plakativ: Wenn Vergleiche gezogen werden zwischen der Wahl 2017 und 1938. Oder wenn die Selbstkritik bezüglich einer destruktiven Wut so überzeichnet wird, dass sie bis zu Suizidszenarien führt, um Platz zu machen für Menschen mit konstruktivem Hass. Aber natürlich ist es Aufgabe der Kunst, zu übertreiben und wachzurütteln. Und dies ist inspirierende Kunst und ein Beispiel dafür, wie konstruktiver Hass aussehen könnte. „Bergeins“ ist nichts für sensible Ohren (es wird allerdings Oropax verteilt) oder Menschen mit Aversion gegen Stroboskop Licht. Dennoch kann empfohlen werden, eine eventuelle Abneigung zu überwinden und sich dem Wortwitz und der Kunst der selbstreflektierten Kritik hinzugeben- um, wie die männliche Stimme am Ende sagt, einen Berg zu bauen, einen „Berg, als Mahnmal einer Welt, die nie gewesen ist, damit sie nie gewesen sein wird.“

Von Katja Heine