Die Sterne der Europaflagge wackeln

Die „Europäische Familie“ plädiert gerne für die Wichtigkeit des menschlichen Lebens und rühmt sich mit einem ausgeglichenen Zusammenhalt innerhalb des Staatenbündnisses. In „Requiem für Europa“ versucht die moldawische Autorin Nicoleta Esinencu durch nahegehende Erzählungen diesen Selbstruhm zu widerlegen. Das Schauspielhaus öffnet seine Türen für eine Kooperation zwischen Chişinău und Graz, die unter die Haut geht.

„Idiotule“, „You fucking idiot“. Zweisprachig wird das impulsive Stück mittels Beschimpfungen eröffnet. Um die Authentizität zu wahren, schildern die drei Schauspieler (Doriana Talmazan, Kira Semionov, Artiom Zavadovsky) ihre heimischen Arbeitserfahrungen in ihrer Muttersprache, Rumänisch. Englische Untertitel begleiten das Gesagte.

Es wird von menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und rücksichtslosem Betrug durch die Arbeitgeber in Moldawien erzählt. Sprachliche Bilder veranschaulichen die Umstände und lassen den Zuschauer im Schock zurück. Und mit schlechtem Gewissen, denn die tagebuchartigen Erzählungen strapazieren das eigene Empathie-Zentrum. Immerhin trägt die Mehrheit zu einer derartigen Ausbeutung ärmerer Länder bei. Mächtige Großkonzerne dominieren den billigen Arbeitsmarkt, der Profit-Rausch lässt keinen Platz für Menschlichkeit. Und dennoch will die Europäische Union ihr Bild von gegenseitiger Unterstützung und Gerechtigkeit wahren. Auf die Forderung nach angemessenen Arbeitszeiten und verlässlicher Bezahlung reagiert man seitens des Parlaments lediglich mit dem Hashtag #strongertogether.

Die Licht – und Tonstimmung wechselt mit dem Emotionen der Schauspieler und betont somit noch intensiver die Dringlichkeit der Situation. Schrill, blinkend, hell – um das Unangenehme zu betonen. Schleppend, blau, schwach – wie die ausgelaugten Protagonisten. Doch die Opferrolle einzunehmen ist nicht ihr Ziel. Sie wirken energisch, entschlossen, erregt. Deutlich wird diese erschöpfte Erregtheit, wenn sie beginnen im Gleichtakt auf ihren Nähmaschinen zu rattern. Drei Nähmaschinen und Lichtinstallationen bilden die karg-wirkende Kulisse, die trotz weniger Elemente ihren Zweck erfüllt.

Der unangenehme Druck, der von den Worten der Protagonisten begründet wird, lässt keinen Zuschauer in seiner Komfortzone verweilen. Die Mahnungen appellieren an unser Bewusstsein und sollen zu einer Sensibilisierung unserer Wahrnehmung führen. Ein bislang verborgener Europa-Komplex, der durch eine knapp zweistündige Schimpftirade durchaus begründet wird, rückt mit „Requiem für Europa“ ins Rampenlicht. Mit „Mulțumesc șefule“/“Thank you, boss“, verabschiedet sich die moldawische Gruppe „teatru-spălătorie“ von der Bühne und hinterlässt ein schuldbewusstes, betroffenes Publikum.

Von Johanna Höfferer

„Hinterfotzig und doch charmant“

Das DramatikerInnen Festival 2018 gipfelt in Stefanie Sargnagels Gastspiel: „JA, EH! BEISL, BIER und BACHMANNPREIS“. Zwischen Persiflage und erschreckend wahrheitsgetreuer, leider nicht allzu realitätsferner Inszenierung.

Drei Schauspielerinnen zaubern sich und Stefanie Sargnagels Gedankenwelt aus einem hölzernen und rustikalen Baukastensystem heraus auf die Bühne. Erschöpft und Müde wird zum grandiosen Gemurmel Voodoo Jürgens über die Planung des Tages debattiert: Spaziergang durch die Stadt oder Gammeln vor dem Fernseher, einen neuen Pullover kaufen oder sich doch lieber gleich ins Beisl schleppen? Auf der „Jagd nach dem ultimativen Kick“ entscheidet man sich fürs Eisschuhlaufen und schiebt sich, in vorübergehender Selbstzufriedenheit schwelgend, in die nächste U-Bahn.

Es folgen misanthropische Gedanken, ein kurzer Wonnemoment auf dem Eis, ein Treffen mit der an Liebeskummer erkrankten Freundin im Beisl und die Erkenntnis, dass die „romantische Liebe“ nichts für einen selbst wäre. Die Bar wird gewechselt und neue Gedanken kommen auf: „Wieso kann ich mich nicht einfach hervorragend fühlen?“ Mit dem „Beislhöhepunkt“ gibt auch der Körper k.o. und der zu erwartende Kater folgt am Morgen… Alles halb so wild, wären da nicht noch diese unsäglichen Auftragstexte!

Die Dreiteilung der Gedanken jener Kunstfigur, die von Sargnagel im Nachgespräch als „karikierte Koboldfrau“ beschrieben wird, in die die drei jungen Schauspielerinnen Miriam Fussenegger, Lena Kalisch und Saskia Klar schlüpfen, ist ein gelungener Kunstgriff der Regisseurin (Christina Tscharyiski ). Einwandfrei funktioniert auch die Interaktion der Schauspielerinnen mit dem Sänger und Hallodri Voodoo Jürgens und dessen Band. Sargnagel gelingt es Subkultur, Jargon und Ästhetik unter einen Hut zu bekommen – der „Poesievogel“ landet zwar schon zu Beginn des Stückes auf dem Boden der Realität, Sargnagels Dichtkunst trägt aber keinen Schaden davon!

Das Stück mag gefallen oder irritieren – Gewiss kann aber Gefallen an jenen „liebevollen Bosheiten“ und dem Beislflair gewonnen werden.

Von Loredana Wohlfahrt

Vorhang auf

Im Rahmen einer Rauminstallation wird die Rolle der Frau im Theater in den Fokus gerückt. Sexuelle Anspielungen, Machtmissbrauch und psychischer Druck- Betroffene und Insider berichten.

„Sau.Rau.“- der orange gesprayte Schriftzug am Asphalt bedeutet all jenen, die den Ort nicht ohnehin schon von uniT kennen, am Ziel angelangt zu sein. In den Fensterbänken stehen Boxen. Aus ihnen ertönen Interviews von Menschen aus dem Theaterbusiness. Ein pinker Pfeil weist auf den Eingang zu „Forced Theatre. Step too“ hin, einer Installation, die im selben Gebäude gezeigt wird wie Sau.Rau, jedoch von uniT-externen Künstlern (Ute Rauwald: Konzept und Interviews, Harald Günter Krain: Sound, Andrea Fischer: Rauminstallation und Dagmar Rauwald: Video). Neben der Türe hängen Kopfhörer an der Wand, durch die die Besuchenden weitere Interview-Ausschnitte hören können. Pinke Klebestreifen, Plastikplanen, ein kaputter Drucker- die Besuchenden bekommen das Gefühl, eine Baustelle zu betreten. Ein Sinnbild für den hohen Renovierungsbedarf im Theaterbusiness?

Die Installation, eine Weiterentwicklung der in Hamburg entstandenen Rauminstallation, dreht sich nicht nur um das Thema der MeToo-Debatte. Auf einen Drucker ist mit pinkem Leuchtstift ein Auszug eines Interviews verschriftlicht worden. Es geht um eine erkrankte Schauspielerin, die trotz Medikamenten nicht auftrittsfähig war und sich krank meldete. Dafür wurde ihr von den Kollegen viel Unverständnis und Verachtung entgegengebracht. Neben dem Drucker klebt ein Zettel mit der Aufschrift „Arbeitssoldatin“. Auf dem Drucker wird der enorme Druck thematisiert, der auf die Darstellenden ausgeübt wird. Ein Druck, der nicht nur sexueller, sondern insgesamt körperlicher und psychischer Natur ist.

Auf einem Bildschirm im Raum wird eine Szene gezeigt, in der eine Vergewaltigung abstrahiert nachgespielt wird. Währenddessen erzählt eine Frauenstimme über die Kopfhörer von einer Schauspiel-Kollegin, die im Stück, wegen der inhaltlichen Vorgabe, geschlagen wurde. Davon trug sie aber tatsächlich blaue Flecken. Eine andere Frau erzählt davon, wie eine junge Schauspielerin bei einer finalen Probe vor allen Beteiligten zusammengeschrien wurde. Sie selbst schalte bei solchen Cholerikern einfach auf Durchzug.

Eine rosé-farbene Chiffonbluse hängt an einem Haken. Daneben ein Zettel mit den Worten „das ist eine Welt“. Der Raum wirkt. Splitter von Geschichten verletzter Menschen. Viele Fragmente fügen sich zu einem Bild zusammen. Ein Bild, das sichtbar wird, wenn sich der Vorhang durch die vielen Stimmen schon vor einer Vorstellung öffnet.

Von Katja Heine

Streifzug durch Schmalz

Ferdinand Schmalz steht zwischen den literarischen Fronten. Er balanciert geschickt zwischen seiner großen Liebe, dem Drama, und der sehnsüchtig erwarteten Prosa. Dass er in beiden Formen brilliert, bewies er bei „Die Leibstücke des Ferdinand Schmalz“ am Freitag im Literaturhaus Graz.

Auf der Rückseite des Drama-Sammelbandes „leibstücke“ von Ferdinand Schmalz steht geschrieben: „theater oder wie ich es nenne: sauna fürs gehirn“. Das Schreiben für die Bühne war es, das Schmalz seit dem Gewinn des Retzhofer Dramapreises 2013 mit „am beispiel der butter“ immer bekannter gemacht hat. Bis er 2017 schließlich mit seinem Prosatext „mein lieblingstier heißt winter“ den Ingeborg-Bachmann-Preis einheimsen konnte. Wer das letzten Sommer verpasst hat, hörte die Geschichte um den Eismann, der mit einer schaurig-kuriosen Aufgabe konfrontiert wird, nun erster Hand aus dem Mund des Autors.

Die sprachliche Genauigkeit, der subtile, aber unüberhörbare Humor in jedem Wort, die exakt zerwürfelten Sätze – ob Prosa oder Drama, Schmalz bleibt sich treu. Trotzdem war der Genre-Wechsel Thema in der Diskussion mit Literaturkritikerin Sandra Kegel: Es habe „Gräben, die man überwinden muss“ gegeben, so Schmalz. Aber: „Meine Liebe zum Theater kann ich nicht verleugnen“. Autor Peter Waterhouse, der das Nachwort zu „leibstücke“ beigesteuert hat, nahm in der Diskussion mit Kegel und Schmalz die nicht sehr bühnenwirksame Rolle des Fischer-Verlag-Werbemannes ein. Sein Argument: In Schmalz‘ Dramen stecken so viele Details, die man auf der Bühne übersehen aber bei der Lektüre merken würde, folglich solle man die „leibstücke“ lieber lesen. Gut gemeint, leider nach hinten losgegangen – was wäre das für ein Drama, das am Papier besser funktioniert als auf der Bühne?

Wie gut die „leibstücke“ auf der Bühne funktionieren, das zeigten gleich zu Beginn des Abends Nico Link in der Rolle des bademeister hannes aus „der thermale widerstand“ sowie Pascal Goffin und Raphael Muff, die sich den „fernfahrerprolog“ aus „dosenfleisch“ aufteilten. Den Schluss machten Ninja Reichert, die erst Tage zuvor das Ernst-Binder-Stipendium bei der Festivaleröffnung verliehen bekam, und Roman Blumenschein. Sie schlüpften in die Rollen von jenny und hans aus „am beispiel der butter“.

Von Hannah Michaeler

Gemeinsam fremd

Die gemischte Gesellschaft wird im gemeinsamen Raum zur temporären Gemeinschaft, wenn unbekannte Individuen sich verbünden und Teil (oder Mitläufer) des Spieles (oder Lebens) werden. Im Rahmen des DramatikerInnen-Festivals verwandelte sich bei „Unter Euch“ der graue Beton am belebten Lendplatz in eine sonderliche Bühne, auf der die Glitch AG zum gemeinsamen Spielen mit Raum, Klang und Miteinander einlud.

Das Publikum – verstreut am Lendplatz – war verbunden durch Funkkopfhörer, aber dennoch abgeschirmt von der außenstehenden Umgebung. Ein skurriles Hörerlebnis um das Thema „Raum“ (speziell abgestimmt auf Graz) erwartete die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ohne Vorahnung was folgt:  Ein rotes Quadrat bildete den Rahmen des interaktiven Teils des Spiels, in dem die passiven Zuschauer und Zuschauerinnen zum aktiven Teil wurden und alle zu einer heterogenen Gruppe wurden – eine Miniaturgesellschaft auf kleinstem Raum. Alle Altersklassen, jedes Geschlecht und verschiedene Meinungen wurden zu einer Masse, in der sich jeder und jede wahrnahm, aber nicht interagierte. Man ging seinen Weg und teilte seine Einstellungen sowie Erfahrungen durch simples Seitenwechseln im Quadrat mit. Es blieb verborgen, wer Mitläufer war und wer es wirklich wagte, seine Meinung zu offenbaren.

Eine Stimme durch Präsenz. Eine Stimme ohne Worte. Teil der Gruppe mit einer Stimme im Ohr. Leben miteinander, nebeneinander aber ohne Worte.

Das Stück „Unter Euch“ wurde von der Glitch AG (Raha Emami Khansari, Eva-Maria Glitsch, Anna Hubner, Christine Kristmann, Anne Pretzsch und Lionel Tomm) in Deutschland ausgearbeitet und ist ein skurriles Stück, das nicht nur zum Anschauen dient, sondern zum Mitmachen und späteren Nachdenken anregt und vor allem unterhaltsam ist.

Vom Christine Glauninger

Die Absurdität der heutigen Zeit

„Mobile Arbeitsateliers“ erlaubten dem Publikum am 08.06. im HAUS DREI einen Einblick in die im Entstehen befindlichen Texte zweier junger Autorinnen (Enis Maci und Gerhild Steinbruch). Deren Unabgeschlossenheit wurde zwar betont, wäre dem Publikum ansonsten jedoch nicht aufgefallen. – Der langanhaltende Applaus am Ende beider Präsentationen ist Beleg dafür.

Das Begeistern der Zuschauer bleibt neben der grundlegenden Gesellschaftskritik allerdings die einzige Gemeinsamkeit der beiden Darbietungen: Denn während Gerhild Steinbruch, die seit Jänner 2018 mit Bernhard Fleischmann an einem Hörspiel arbeitet, mit ihrem schwarzen Bowler hinter einem Mac vom einzigen Scheinwerfer beleuchtet wird, lässt Enis Maci, in Zusammenarbeit mit Franz-Xaver Mayr, drei Figuren in einem sichtbar engen Auto Platz nehmen. Während dieses Auto-Setting bereits das Publikum zum Lachen bringt, binden schon die ersten Worte Steinbruchs die Faszination der Zuschauer an sich. Mit raschem Sprechtempo fängt sie augenblicklich die menschlichen Ängste und entmenschlichenden Denkmechanismen des heutigen Zeitgeistes ein. Langsam lesen dagegen Macis Figuren Theaterstücke mit gesellschaftskritischem Impetus und versuchen sich mit „Autofahrspielen“ die Zeit zu vertreiben. Futuristische Klänge verdeutlichen Steinbruchs Kritik an der heute in der Gesellschaft dominanten absurden Suche nach optimierter Effizienz und dem Zwang nach lächelnder Fassade. Das Klarinettenspiel und die Singeinlagen der Schauspieler in Macis Werk dagegen führen die Situation ad absurdum und stehen im Kontrast zu den gelesenen Erzählungen wie jener über die Amokfahrerin Olga H.

Obwohl konträr, beeindrucken beide Präsentationen mit ihrer jeweils eigenen machtvollen Eindringlichkeit. Sie machen tatsächlich, wie das Programmheft verspricht, Lust auf mehr. Nämlich mehr Texte und Inszenierungen dieser beiden enormen Talente.

Die Fertigstellung der Texte ist für Ende dieses Jahres geplant.

Von Sarah Strasser

Ich bau dir einen Berg

Wer denkt, dass Gesellschaftskritik nur von selbstverherrlichenden Idealisten im Elfenbeinturm geübt wird, sollte sich dieses Stück ansehen: Das Künstlerkollektiv (bestehend aus „Freundliche Mitte“: Gerhild Steinbruch, Philine Rinnert, Sebastian Straub und zusätzlich: Pia Derler, Mechthild Weber, Bernhard Fleischmann u.a.) übt in der performativen Inszenierung „Bergeins“ Kritik an der gegenwärtigen Regierung, warnt vor Rechtsextremismus und vergisst dabei nicht, die eigene Rolle zu hinterfragen. Der passende Aufführungsort dazu: Dom im Berg.

„Wir werden uns nicht mehr müde fühlen, wenn wir den Berg gebaut haben, als Monument einer Geschichte, die gewesen ist. Der Berg ist unser Monument, er ist unser Spektakel.“ Eine männliche Stimme ertönt aus den Lautsprechern. Ihre Worte erinnern an Big Brother. Es gibt kein Gesicht dazu. Eingestimmt auf die anstehende Gesellschaftskritik wurde das Publikum schon im Tunnel durch den Schlossberg. Aus den Seitengängen schallten „Reden die Österreich bewegten“, von Karl Renner bis Schuschnigg. Nun steht das Publikum an einem Geländer und blickt auf den Spielplatz hinunter: Eine große Skulptur eines Berges mit Gipfelkreuz steht hellbeleuchtet im Raum. Zwei große Plakate, eines mit dem Cover einer Schallplatte „Österreich mein Heimatland“, das andere mit dem leicht veränderten Titel „Österreich kein Heimatland“. Aufgestapelte Sandsäcke formen ein U, dagegen ist ein Gewehr gelehnt. Zielscheiben sind zwei Kästen mit darüber gebauter Bergidylle. Vor dieser Idylle sind zum einen abstrakte Bilder von verschleierten Mädchen und einem herausstechenden Clown zu sehen. Zum anderen stehen Kaiserfiguren mit den Gesichtern bekannter Politiker hinter Kornblumen. Eine starke Kritik am Vermummungsverbot.

Ein Knall. Die Zuseher gehen weg vom Geländer, die Treppe hinunter und hinein ins Geschehen. Die ganze Szenerie wirkt sehr futuristisch: Grell-flackerndes Licht, laute Musik, vier Künstler mit schwarzem Gewand und silbernen Schuhen verteilen Sekt. Dies ist, mit Ausnahme von einem kurzen Auftritt von Gerhild Steinbruch, der einzige schauspielerische Part. Ansonsten ist das Publikum selbst Teil des Stücks und kann sich frei auf der Bühne bewegen. Mit den einzelnen Stationen wirkt es fast wie eine Ausstellung. Die Sinne der Zuseher werden auditiv- mit viel Sprachgewandtheit und provokanten Statements- und auch visuell- mit den Stationen und vielen zusätzlichen Bildern- überflutet. In diesem Stück stecken so viele Anregungen, dass man es am liebsten ein zweites Mal gehen möchte, um mehr mitnehmen zu können. Die gesprochenen Texte regen mit viel Wortwitz und guten Gedanken zum Nachdenken an. Auch Interviews mit jungen Menschen, die im Rahmen eines Workshops beim Bühnenaufbau gemacht wurden, flossen in die Produktion ein. Gegen Schluss trägt Gerhild Steinbruch ein Plädoyer vor: gegen einlullende, politische PR-Rhetorik und rechtsextremes Gedankengut, aber auch gegen den eigenen, lähmenden Hass.

Teilweise werden die Künstler gefährlich überkritisch und plakativ: Wenn Vergleiche gezogen werden zwischen der Wahl 2017 und 1938. Oder wenn die Selbstkritik bezüglich einer destruktiven Wut so überzeichnet wird, dass sie bis zu Suizidszenarien führt, um Platz zu machen für Menschen mit konstruktivem Hass. Aber natürlich ist es Aufgabe der Kunst, zu übertreiben und wachzurütteln. Und dies ist inspirierende Kunst und ein Beispiel dafür, wie konstruktiver Hass aussehen könnte. „Bergeins“ ist nichts für sensible Ohren (es wird allerdings Oropax verteilt) oder Menschen mit Aversion gegen Stroboskop Licht. Dennoch kann empfohlen werden, eine eventuelle Abneigung zu überwinden und sich dem Wortwitz und der Kunst der selbstreflektierten Kritik hinzugeben- um, wie die männliche Stimme am Ende sagt, einen Berg zu bauen, einen „Berg, als Mahnmal einer Welt, die nie gewesen ist, damit sie nie gewesen sein wird.“

Von Katja Heine

Das Theater am Lend (fast) in Flammen

Gespannte Stille. Ein Sesselkreis. In der Mitte: Ein Tisch und ein von der Decke hängendes Mikrophon. Das war die Ausgangssituation für das unkonventionelle Stück „Der Staat“, welches es von Bulgarien bis nach Graz in das Theater am Lend geschafft hat.

2013 hat sich Plamen vor dem Landtag in Varna verbrannt, um ein Zeichen zu setzen. Ein durchschnittlicher Bürger in Bulgarien. Die katastrophale Situation der Sozialpolitik hat ihn dazu gebracht. Er war nicht der erste und er war auch nicht der letzte, der sich verbrannt hat. Er hat keinen Brief hinterlassen, zumindest wurde keiner gefunden. Alexander Manuiloff hat sich der Geschichte Plamens angenommen. Er hat Briefe geschrieben. Einfache unbeschriftete Briefumschläge mit Briefen, welche die letzten Tage vor Plamens Selbstverbrennung nachzeichnen. Damit aber das Leben von Plamen nicht ungehört bleibt, oder als dramatische Inszenierung auf einer Bühne an uns unbeteiligt vorbeigeht macht das Publikum zu Beteiligten, die den Verlauf des Stückes bestimmen.

Der Sesselkreis als solches ist nichts was man auf einer Bühne als Publikumsraum kennt. In dem Fall befindet sich die Bühne dann in der Mitte und das Publikum sitzt um die Schauspieler herum. Aber es gibt keine Schauspieler. Nur einen Tisch, mit einer Box und jeder Menge Briefen. Briefe wie sie Plamen hätte schreiben können, vor seinem Tod. Und Briefe über das Theater.
Diese Dinge weiß man erst, wenn jemand den ersten Schritt macht und einen der Briefe öffnet. Kein Schauspieler. Einer aus dem Publikum. Ob er ihn tatsächlich vorliest oder ihn mit zu seinem Platz nimmt, bleibt ihm überlassen. Daher verläuft jeder Abend dieses Stücks zufällig. Die Briefe werden in einer zufälligen Reihenfolge geöffnet. Oder auch nicht. Das Stück verläuft so wie es das Publikum entscheidet.

Es ist eine neue Art des Theaters. In Graz gibt es diese Form schon ab und an. Etwa bei „Libertalia 2.0“ oder auch „Das Alte Teststament“, auch diese Stücke funktionieren nur mit der Beteiligung des Publikums. „Der Staat“ von Alexander Manuiloff geht aber weiter. Es gibt niemanden, der eine Rolle hat. Es gibt niemanden der in irgendeiner Weise das Stück beeinflusst – außer das Publikum selbst. Es kann alles passieren. Im schlimmsten Fall, schweigt jeder und niemand traut sich zu handeln. Aber auch das ist in Ordnung für Alexander Manuiloff. Denn im Endeffekt geht es darum, dass das Publikum selbst entscheiden muss, wie es mit dem Stück umgehen will und sich nicht berieseln lassen kann von einem Schauspiel, auf das es keinen Einfluss hat.

Die Reaktionen im Theater am Lend waren unterschiedlich. Es wurden Briefe gestohlen und versteckt. Vieles wurde unkommentiert vorgelesen. Die Box in der die Briefe lagen wurde gefangen genommen und wurde heldenhaft wieder befreit. Und am Ende stand der Mistkübel mit allen gelesenen Briefen auf dem Tisch und sollte angezündet werden. Es hätte uns niemand daran gehindert.

Von Anatina Riester

Libertalia 2.0 – Diskutieren, debattieren, definieren

Wenn das Publikum die Show macht, ist das ein risikoreiches Unterfangen für den Stückentwickler. Philipp P. Ehmann hatte in diesem Fall aber Glück, da die auserwählten Diskutant*innen ihre spontan vergebenen Rollen ausgezeichnet und mit voller Diskussionsbereitschaft verkörperten.

Treffpunkt war das Foyer des Schauspielhauses am 06. Juni wo ein junger, konservativ gekleideter Mann, die Teilnehmer empfing und, nach einer kurzen Ansprache, von dort aus an eine andere Location brachte. In einem großen Saal waren, sowohl für die neu erkorenen Politiker, als auch deren Publikum ein Podium mit Sesseln bereitgestellt. Eine kurze Erläuterung der Spielregeln hat sofort klar gemacht: heute solls zur Sache gehen. Das Publikum konnte Aktionskarten einsetzen, um die Redner vom Sprechen abzuhalten oder selbst einen Platz am Podium einzunehmen.
Thema des Abends war Gleichberechtigung im neuen Staat Libertalia 2.0 und Ziel war es, einen Gesetzesvorschlag zu formulieren, der schon vorhanden war, aber an dem noch gefeilscht werden musste, bis alle Diskutant*innen damit einverstanden waren.

Nachdem sich die spontan ernannten Schauspieler etwas aufgewärmt hatten, ging es auch schon fleißig los mit der Diskussion und es wurde sich an einzelnen Worten aufgehängt, über bestimmte Phrasen debattiert und erörtert, warum was nicht so formuliert sein sollte. Das Publikum war im ersten Zeitblock noch sehr verhalten und so plätscherte der Abend ein wenig dahin. Nachdem das Publikum begriffen hatte, dass es den Diskutant*innen ein wenig schwer fiel zu Ergebnissen zu kommen, wurden mehr Aktionskarten ausgespielt und sich mehr eingemischt.

Das spannende Experiment wurde nach über einer Stunde konferieren, besprechen und verhandeln beendet und der unvollständige Gesetzesvorschlag wurde vom Publikum bei einer Blitzwahl angenommen. Danach wurde den Teilnehmern vom jungen Herrn mitgeteilt, das Experiment habe Früchte getragen und sie wurden in ihr normales Leben entlassen.

Ein sehr spannender Abend, dessen Hintergrundgedanke es vermutlich war, mehr Zwiespalt in die Runde zu bringen und mehr Diskussionen hervorzurufen. Da aber das Publikum offensichtlich für Gleichberechtigung im Staat Libertalia 2.0 war und die Gesetzesvorschläge harte Brocken waren, war der Abend definitiv etwas anderes. Ob das auch das Ziel des Stück-Entwicklers Philipp J. Ehmann und den Dramaturginnen Elisabeth Geyer und Jennifer Weiss war, bleibt unklar.

Von Stefanie Lorber

Glaube zu hinterfragen

Islam und Glaube verbunden mit der Geschichte einer sich liebenden Familie: Das Ergebnis ist „The Who and The What“ von Ayad Akhtar, das unter der Regie von Jan Stephan Schmieding am Grazer Schauspielhaus aufgeführt wurde.

Die eine Tochter mit Liebeskummer und Schreibblockade, die andere in Hochzeitsplanung mit ihrem Freund, doch Schwärmerei für ihren Tutor. Ein Vater am Glasfaser-Puls der Zeit, der das Beste für seine Töchter will. Soweit eine eher vertraute familiäre Situation. Indem Ayad Akhtar die Islamdiskussion in eine Familiengeschichte einbettet, mit der sich viele identifizieren können, macht er das Thema zugänglicher. Feinfühlig und humorvoll zeichnet der Autor vier Charaktere, deren Einstellungen zum Glauben unterschiedlicher kaum sein könnten. Zarina (Henriette Blumenau), die ältere Tochter, eine selbstbewusst-feministische Muslimin, arbeitet an einem kritischen Buch über den Propheten. Ihre jüngere Schwester Mahwish (Tamara Semzov) sucht nach Schlupflöchern in einem strengen Glauben und nach Rat bei Zarina. Der Vater Afzal (Stefan Suske), ein gläubiger Muslim, lebt aber zerrissen zwischen Liberalität und strenger Religiosität. Das wird auch in einem kleinen Detail im Bühnenbild (Frank Holldack) widergespiegelt, das ansonsten mit türkisen Polstermöbeln im 60er-Jahre Stil recht schlicht gehalten ist: Eine halbvolle Flasche Cognac steht am Sideboard. Einerseits sehr wertkonservativ, verbot Afzal seiner Tochter die Heirat eines Andersgläubigen. Andererseits sehr modern, und um seinen Fehler wieder gut zu machen, sucht er auf einem Online-Dating-Portal nach einem neuen Mann für Zarina. Den findet er schließlich in Eli (Nico Link), einem konvertierten Muslim, der sie bewundert und unterstützt. Die unterschiedlichen Haltungen der Charaktere prallen im Stück oft aufeinander und gipfeln in der Veröffentlichung von Zarinas Buch, welche die Familie in Chaos stürzt. Der Schluss bleibt offen: zwar scheint er versöhnlich, doch bleibt unklar, inwieweit die Figuren zum Überdenken ihrer Einstellungen bereit sind.

„The Who and The What“ behandelt ein heikles Thema mit Leichtigkeit, Selbstironie und viel Hintergrundwissen. In Nebensätzen werden ganze Geschichten erzählt und Gänsehaut erzeugt. In einigen Situationen kann das Publikum die entstandene Spannung mit einem Lachen lösen. Das Stück regt zum Nachdenken an, ohne zu belehren. Vor allem animiert er mit der speziellen Wahl seiner Figuren und der Umstände, sich in die Charaktere hineinzufühlen.

Die Nähe zur Bühne und den Schauspielern im Haus 2 ist von Vorteil: Der Zuseher wird in die Privatsphäre der Charaktere hineingezogen und kann direkt am intimen Familienleben teilhaben. Auch eine schauspielerische Herausforderung – jede Mimik und Gestik ist sichtbar- die von den vier Darstellern exzellent gemeistert wurde. Sie erweckten die Figuren auf der Bühne zum Leben. Mancher Wortwechsel mutet eventuell als Small Talk an, doch: In diesem Stück hat jedes Wort Gewicht. Ayad Akhtar überbringt seine Message subtil, sodass sie dem Zuseher unbemerkt unter die Haut geht. Letztlich zeigt das Stück, wie stark Traditionen- gleich welcher Art- in jedem von uns inkorporiert sind und führt die Bequemlichkeit des Glaubens, ohne zu hinterfragen, vor Augen.

Der Applaus war nicht enden wollend und dem Publikum nach zu urteilen, hätte auch das Stück demgemäß sein sollen- nicht endend. (Ein erfreulicher Ausblick: „The Who and the What“ ist im Herbst wieder im Schauspielhaus zu sehen.)

Von Katja Heine