Freundliche Todesbefehle

Gibt es noch eine Hemmschwelle, wenn Brutalität virtuell stattfindet? Wenn Gewalt ohne gegenseitige Blicke in verletzliche Augen ausgeübt wird? Diese Fragen stellt Regisseur Julian Hetzel mit seinem eindringlichen Schauspiel „The Automated Sniper“ dem Publikum des Dramatikerinnen-Festivals. Eine Antwort liefert die Aufführung in Form eines eindrucksvollen Kriegsspiels.

Florian Karelly

Eine heiter klingende Frauenstimme aus dem Off (Ana Wild) heißt das Publikum herzlich willkommen und erklärt die Hard Facts zum weiteren Verlauf. Eine ferngesteuerte, vollautomatische Waffe (Design Hannes Waldschütz) schießt von der Decke herabhängend Farbkugeln auf die vollkommen weiße Bühne – und auf die die beiden Schauspieler. Das Publikum wird dazu eingeladen, am Spiel teilzunehmen, indem es die Waffe steuert. Noch wirkt alles humorvoll und nonchalant. Also lasst uns spielen – Freiwillige vor!

Level 1

Die freundliche Stimme aus dem Off bringt dem ersten Mitspieler die Bedienung der automatisierten Waffe nahe. Mittels Joysticks und Knöpfen wird die Maschine aus einem für Publikum und Schauspieler nicht ersichtlichen Raum gesteuert und abgefeuert. Im Sinne eines Tutorials lernt der Freiwillige das Zielen, das präzise Schießen und wie viel Spaß es machen kann, Krieg zu spielen. Die weißen Wände des sterilen Bühnenbilds bekommen dadurch Farbe verliehen, auch die Requisiten, wie Stühle, Satellitenschüsseln und Plexiglasscheiben werden beschossen. Nach dem Tutorial tritt der Spieler aus dem abgetrennten Raum wieder hervor. Es gibt Applaus!

Level 2

Die freundliche Stimme aus dem Off wählt erneut einen Freiwilligen aus. Die nächste Aufgabe besteht darin, sämtliche Objekte auf der Bühne zu zerschießen. Die großartigen Performer – Bas van Rijnsoever und Claudio Ritfeld – setzen bereits Schutzmasken auf, doch diese werden noch nicht benötigt. Die Lage wird angespannter, erzeugt durch eine bedrohlich klingende Soundkulisse und die allmählich beunruhigende Stimme. Die Mission glückt. Applaus!

Level 3

Nächstes Ziel der ferngesteuerten Waffe sind nun die beiden Schauspieler. Der Schütze aus dem Publikum zögert ein wenig, aber die Stimme aus dem Off klingt doch so bestimmt und vertraulich. Warum also nicht schießen? Zwei Schüsse ins Gesicht, danach unzählige Schüsse auf die fliehenden, sich Deckung suchenden Opfer. Als Teil des Publikums ist man sich nicht sicher, ob es sich noch geziemt, an diesem Spiel gefallen zu finden. Doch die Mission glückt, also Applaus!

Next Level Shit

Die mittlerweile aufgrund ihrer Freundlichkeit pervers anmutende Stimme stellt den nächsten Spieler vor: einen Profi-Gamer in und aus Bagdad. Aus einem Zimmer im Nahen Osten steuert er die Waffe und feuert hunderte Kugeln auf die hilflosen Schauspieler ab. Beinahe jeder Schuss trifft, obwohl er sich tausende Kilometer entfernt aufhält. Sein Gesicht wird auf die Wände projiziert, das Publikum kann ihn hören und sehen. Nach einem regelrechten Farbkugelmassaker bricht die Verbindung in den Irak ab, doch das Spiel ist noch nicht zu Ende: Die Projektionen des Profispielers laufen fließend in reale Drohnenaufnahmen über. Nun sterben echte Menschen, geschossen wird nicht mit Farbkugeln, sondern mit scharfer Munition. Aus Spaß wird Ernst, aus Spiel wird Krieg. Und das Publikum sieht weiterhin zu.

Make Art Great Again

Was am Ende von der Bühne übrig bleibt, ist ein buntes Schlachtfeld, ein farbiges Denkmal an moderner Kriegsführung. Die Performer schreiben mit schwarzer Sprühfarbe „Make Art Great Again“ an die Wand – eine Kriegserklärung an den Krieg. Dem international gefeierten Künstler Julian Hetzel und seinem Team gelingt mit „The Automated Sniper“ ein gelenkiger Spagat zwischen kritischem Pamphlet und spannendem Spiel. Das Gastspiel des Frascati Theater Amsterdam beschwört mit dem Theaterspiel Kunst zu einer moralischen Norm und verblüfft damit das Grazer Publikum.

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